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Mathematisch Naturwissenschaftliche Fakultät
Fachbereich Psychologie
Abteilung Sprache & Kognition
Dr. Fritz Günther

E-mail: fritz.guenther@uni-tuebingen.de

Teilnehmerinformationen: Wieso eine Studie zu Tabuwörtern?

Wir sind uns bewusst, dass ein nicht geringer Anteil von Tabuwörtern (Schimpfwörter, Ausdrücke, Beleidigungen) problematisch ist, und bei Personen Unwohlsein und negative Gedanken und Gefühle auslösen kann. Ganz besonders betrifft dies die persönlich und gesellschaftlich hoch problematische Rolle von Wörtern, die zum Ziel haben, bestimmte Individuen oder gesellschaftliche Gruppen anzugreifen, zu verletzen, und zu diskreditieren (zum Beispiel rassistische oder sexistische Beleidigungen).

Warum führen wir also eine Studie durch, die gerade solche Wörter erforschen soll?

Zusammenfassung

  • Es geht nicht darum, den Gebrauch dieser Wörter gutzuheißen oder zu legitimieren
  • Man muss problematische Dinge verstehen, um Ihnen entgegenzuwirken
  • Klare Beschreibung der Unterschiede zwischen einzelnen Tabuwörtern und Sprechern
  • Identifizierung problematischer Beiträge (z.B. im Online-Diskurs)
  • Tabuwörter sind wissenschaftlich interessant: Werden häufig benutzt, überleben oft Sprachverlust, sind emotional mehrdeutig, und erlauben Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sprache, Selbstkontrolle, Sozialverhalten, und Emotion

Genauere Beschreibung

Gesellschaftliche und soziale Erwägungen

Die wohl heikelste Klasse von Tabuwörtern sind rassistische oder sexistische Beleidigungen, oder sonstige Ausdrücke, die klar darauf abgezielt sind, Angehörige bestimmter Gruppen (oft Minderheiten) bewusst anzugreifen, zu verletzen, zu diffamieren, oder auszugrenzen. Ebenso können bestimmte blasphemische Ausdrücke für Angehörige bestimmter Glaubensrichtungen als sehr verletzend wahrgenommen werden, da sie direkt darauf abzielen, ein bestimmtes Glaubenssystem anzugreifen oder lächerlich zu machen. Daher haben diese Wörter klar negative, schädliche soziale und gesellschaftliche Auswirkungen.

Zusätzlich kann unsere Datenbank dazu verwendet werden, problematische Beiträge (hate speech) im Online-Diskurs zu identifizieren, was eine Grundlage für angemessene Gegenmaßnahmen - wie die Markierung entsprechender Beiträge als problematisch - darstellen kann.

Wissenschaftliche Erwägungen

Fluchen und der Gebrauch von Tabuwörtern (d.h., sozial unangemessene Wörter) ist ein einzigartiges Verhalten, das (vermutlich) Sprecher aller Sprachen, Kulturen, und sozialer Herkunft und Stellung zeigen.

Tabuwörter haben dabei einige interessante Eigenschaften:

a) Obwohl es nicht viele verschiedene von ihnen gibt, und obwohl ihr Gebrauch sozial eigentlich nicht akzeptabel ist, werden Tabuwörter überraschend häufig gebraucht – Schätzungen zufolge machen sie etwa 0.5% der alltäglichen produzierten Wörter von US-Studenten aus (Mehl & Pennebaker, 2003; zum Vergleich: Personalpronomen wie ich, sie, er machen etwa 10% aus). Dementsprechend wäre jedes zweihundertste Wort, das wir verwenden, ein Tabuwort. Zudem werden Tabuwörter in etwa 7% aller englischsprachigen Tweets verwendet (Wang, Chen, Thirunarayan, & Sheth, 2014).

b) Teilweise verbleiben ausschließlich Tabuwörter im Wortschatz von schwer aphasischen Patienten, die ansonsten ihre Fähigkeit zur Sprachproduktion komplett verloren haben. Dies legt nahe, dass diese Wörter anders repräsentiert und gespeichert sind. Ein Beispiel ist der historisch bekannte Fall des Patienten Leborgne (alias Tan Tan), der zwar keine Wörter mehr produzieren konnte, aber dennoch den Ausdruck "sacre nome de Dieu" ("gottverdammt") verwendete. Zudem kommt es bei manchen Patienten mit Tic-Störungen wie dem Tourette-Syndom vor, dass systematisch spontan und unkontrolliert Tabuwörter produziert werden.

c) Tabuwörter sind oft emotional mehrdeutig: Abhängig von der Situation kann das selbe Tabuwort positiven, negativen, oder neutralen emotionalen Inhalt vermitteln (z.B. "Scheiße!" wenn das Handy auf den Boden fällt und zerbricht vs. "Scheiße!" wenn man mit einer unerwarteten Überraschungsfeier daheim begrüßt wird). Ein extremes Beispiel ist "Fuck!" im Englischen, das in praktisch jedem Kontext verwendet werden kann.

Dennoch werden diese Wörter – aus naheliegenden Gründen – aus vielen wissenschaftlichen Datenbanken von vornherein ausgeschlossen, wodurch systematisch ein relevanter Teil natürlicher Sprache unerforscht bleibt. Gleichermaßen ignoriert die psycho-linguistische und neuro-linguistische Literatur Tabuwörter systematisch. Dabei stellen diese Wörter, neben den bereits aufgeführten Eigenschaften, ein wertvolles Werkzeug zur Beantwortung theoretischer Fragestellungen dar:

Sind Tabuwörter eine einheitliche Klasse von Wörtern, oder sollten sie eher in verschiedene Klassen unterteilt werden, die unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden (verhalten sich zum Beispiel Beleidigungen gleich wie Ausdrücke)? Inwiefern unterscheiden sich Tabuwörter von anderen "normalen", gleichermaßen emotionalen Wörtern? Da unterschiedliche soziale Kontexte einen gewissen Umgang mit Tabuwörtern erfordern (in vielen Kontexten sollten sie möglichst nicht produziert werden), wie wird dies durch kognitive Kontrollmechanismen geregelt? Beansprucht dies permanente Selbstkontrolle? Wie hängt bei mehrsprachigen Personen der Tabuwort-Status eines Wortes von deren Spracherfahrung, Sprachkompetenz, und dem kulturellen Hintergrund ab? Wann wird ein Wort in der Sprachentwicklung von Kindern oder Fremdsprachlern Tabu? Und weshalb "überleben" Tabuwörter oft schwere Sprachstörungen und werden bei anderen systematisch spontan produziert?

Diese Punkte machen ersichtlich, dass Tabuwörter nicht nur an sich ein interessantes Studienobjekt darstellen, sondern auch ein wertvolles Werkzeug zur Untersuchung anderer Funktionen darstellen, besonders hinsichtlich emotionaler und sozialer Verarbeitung und Verhaltensweisen, aber auch kognitive Kontrollmechanismen (dies beinhaltet sowohl Aufmerksamkeits-, als auch Selbstüberwachungsmechanismen). Für diese Art von Forschung ist die Erstellung einer Datenbank von Tabuwörtern ein wichtiger erster Schritt. Dabei ist diese Studie Teil (der deutsche Teil) eines großen, internationalen Projekts, an dem über 20 Forschungsgruppen verschiedenster Sprachen, Kulturen, und Nationalitäten teilnehmen.